Freitag, 11. Oktober 2013

Was dann geschah - Meine Geschichte, zweiter Teil


(Bild: yeowatzup)

Frisch verliebt wie ich vor drei Jahren war, hatte ich das Gefühl dass Rafael mir vollkommen genügt, und betrachtete Polyamorie nur noch als ein theoretisch gutes Modell was aber nichts für mich ist, weil ich meinte, mich nicht auf mehr als einen Menschen gleichzeitig so sehr einlassen zu können.

Ich hatte in meinem Kopf einen Vergleich zwischen Daniel und Rafael aufgebaut, und aus meiner damaligen Sicht war Rafael der klare Gewinner. Im Nachhinein betrachtet gibt es auch bei Daniel sehr viele positive Dinge zu erkennen, aber die hatte ich zu dieser Zeit alle verdrängt. So machte ich es mir leichter, damit klarzukommen dass ich Daniel verloren hatte und mein Experiment gescheitert war.

Eine Weile später zog Rafael zu mir in meine winzige Wohnung ein.
Es bahnte sich schon langsam an, dass auch mit ihm das Thema Sex ein schwieriges bleiben würde. Wovon ich mich aufgrund meiner Leidensgeschichte schon lange unabhängig gemacht hatte, ist für ihn noch immer ein Bedürfnis, dessen Nichterfüllung ihn unausgeglichen und reizbar macht. Dass er mich optisch weniger "anmachte", und ich immer das Gefühl hatte seinen Wünschen sowieso auf Dauer nicht genügen zu können, ließ meine Lust, die ich anfangs noch mit ihm neu entdeckt hatte, mit der Zeit wieder viel weniger werden. Außerdem entwickelten sich mit meiner Arbeit immer mehr Schwierigkeiten, und ich konnte mich nicht mehr genügend entspannen um überhaupt noch Lust zu haben.

Dann hatte Rafael einen Unfall, der ihm einen langen Krankenhausaufenthalt und einen erzwungenen Arbeitsplatzwechsel bescherte. Das ist jetzt über ein Jahr her, und er hat sich immer noch nicht vollständig davon erholt. So lange er krankgeschrieben war hing er zuhause rum und machte kaum etwas. Ich war es gewohnt, der schwächere Part von uns beiden zu sein, und hatte das zu Anfang auch so sehr gebraucht, dass ich dann leider den Absprung verpasste. Ich ließ meine Energie so weit zurückschrumpfen dass ich wieder weniger hatte als er, so dass wir beide kaum noch Kraft hatten und nur noch halb depressiv vor uns hinlebten. Wir waren so sehr gewöhnt, alles zusammen zu machen, dass wir uns gegenseitig immer wieder runterzogen.

Irgendwann in diesem Sommer kam der Punkt, an dem wir merkten dass es so nicht weitergehen kann. Wir hatten viele tränenreiche Gespräche, waren uns aber einig dass wir nicht jetzt ein Urteil über die Zukunft unserer Beziehung fällen wollten. In einem Zustand wo wir so sehr mit unserem eigenen Kram belastet waren, konnten wir nicht klar sehen wie es wäre, wenn jeder von uns mit sich selbst gut klarkommen würde.
Wir beschlossen, mehrere Dinge zu ändern: Rafael würde aus der gemeinsamen Wohnung wieder ausziehen und sich etwas eigenes suchen, denn die völlig fehlende Privatsphäre der Ein-Zimmer-Wohnung hatte uns nicht gut getan.
Wir würden beide versuchen, wieder mehr zu uns selbst zurückzufinden, uns wieder aufzubauen wie wir eigentlich sind.
Und Rafael bekam die Erlaubnis, mit anderen Frauen Sex zu haben. Ich habe erst lange damit gehadert weil ich mich wieder zu sehr an Eifersucht und Besitzdenken gewöhnt hatte, aber letztendlich war die Entscheidung auch eine Erleichterung für mich, weil sie mir eine "Aufgabe" abnahm der ich mich nicht gewachsen gefühlt hatte.

Dann fuhr ich mal wieder ohne Rafael auf eine Veranstaltung und lernte dort Sascha kennen. Wir verstanden uns prima, er war lieb und fürsorglich zu mir, die Chemie stimmte. Wir unterhielten uns übers Tanzen, wovon wir beide sehr begeistert waren aber es lange nicht mehr ausgeübt hatten. Ich hatte große Sehnsucht danach - seit meiner Trennung von Daniel hatte mir das Tanzen gefehlt, aber Rafael war nur mäßig daran interessiert und gab es schnell wieder auf.
Ich sah in Sascha vieles, was mir bei Rafael fehlte. Er ist jung (vier Jahre jünger als ich), sportlich, voller Energie und positivem Denken, und nicht zuletzt von der Körpergröße her wesentlich passender zu mir. Und ich hatte natürlich noch keinerlei negative Erinnerungen und schwierige Situationen mit ihm.
Ich kam nach Hause und war verliebt. Konnte den ganzen Tag nur noch an Sascha denken. Ich traute mich erst nach mehreren Tagen, mit Rafael darüber zu sprechen. Die Verliebtheit stellte für mich meine Beziehung in Frage, ich begann wieder zu vergleichen, mich zu fragen wer wohl der bessere Partner für mich wäre. Obwohl ich doch geschworen hatte jetzt kein Urteil über Rafael zu fällen, und obwohl ich viel zu wenig über Sascha wusste um zu einer Entscheidung kommen zu können. Ich entschied mich, die Sache aufzuschieben, Sascha besser kennenzulernen (wir waren sowieso in Kontakt wegen unseres gemeinsamen Hobbys) und Rafael seine faire Chance zu geben. Wahrscheinlich würde sich mit Sascha eh nicht mehr als Freundschaft ergeben, vor allem da ich wusste dass er bereits in einer Beziehung ist.

Ich chattete fast täglich mit Sascha (der leider mehrere Stunden Fahrt von mir entfernt wohnt) und er wurde mein engster Freund, dem ich alles erzählte was mich gerade beschäftigte. Immerhin verheimlichte ich das diesmal nicht vor Rafael auch wenn ich ihm nicht ständig davon erzählte. Wir waren beide verunsichert was das für unsere Beziehung zu bedeuten hatte, und ich ermahnte mich selbst, erst abzuwarten und nichts zu überstürzen.
Ich begann, erneut meine Definitionen von Freundschaft und Liebesbeziehung in Frage zu stellen, und mir zu wünschen dass ich keine Definitionen bräuchte sondern einfach mit jedem Menschen so viel Nähe genießen könnte wie es uns beiden recht wäre. Ich wollte mich nicht schon wieder entscheiden müssen.

Dann kam das Wochenende, an dem Sascha bei mir zu Besuch war. Wir schmiedeten Pläne für unser gemeinsames Hobby, versuchten uns vergeblich am Tanzen (wir hatten beide schon zu viel vergessen, aber das motivierte mich, es jetzt erst recht wieder lernen zu wollen), und führten wunderschöne tiefsinnige Gespräche. Wegen des Wissens um seine Beziehung wagte ich nicht, von mir aus auch nur einen Schritt, eventuell zu weit, auf ihn zuzugehen, aber jedes Bisschen (auch körperliche) Nähe, was er mir gab, saugte ich begierig in mich auf. Wir gingen nachts händchenhaltend in der Stadt spazieren, und ich hatte Schmetterlinge im Bauch wie schon lange nicht mehr. Es war wie ein wunderschöner Traum, ich fühlte mich geborgen und entspannt, und gleichzeitig aufgeregt. Ich brauchte noch einige Stunden nachdem Sascha wieder gefahren war, um mich überhaupt mit etwas anderem beschäftigen zu können als nur dieses Gefühl zu genießen.

Ich fand keine Ruhe und sprach Sascha im Chat darauf an, wie er unsere Beziehung einschätzen würde. Er sagte, er liebt mich. Aber auch, dass er alle seine Freunde liebt, wenn er auch mit keinem davon so ein intensives Gefühl hat wie mit mir. Ich fragte ihn ob er sich schon mit Polyamorie beschäftigt hätte und er sagte nein, und war sich auch nicht sicher wie das ihn betreffen sollte. Instinktiv und ohne darüber nachzudenken hatte er schon die richtige Einstellung dafür, hat das aber noch nie in Worte gefasst und auch keine Lust sich damit auseinanderzusetzen. Diese Art habe ich in vielen Dingen an ihm feststellen können - er hat von Natur aus ein bemerkenswert offenes, freies und modernes Weltbild, ist sich aber gar nicht bewusst dass das ungewöhnlich ist und spricht selten darüber. Selbst dann, wenn ich ihn frage.

Ich ahnte, dass ich es doch noch einmal mit der Polyamorie versuchen wollte. Das war der letzte Anstoß, den ich brauchte um selbst nochmal durch die alten Quellen zu schmökern die ich drei Jahre früher zu dem Thema aufgetan hatte. Und um mir ein Buch zu kaufen, damit ich mich noch genauer damit auseinandersetzen könnte, weil ich mir selbst mal wieder nicht über den Weg traute.
Ich las das Buch (und fand mich total darin wieder) auf der Zugfahrt, während ich zu Sascha und seiner Freundin Cleo unterwegs war. Eigentlich nur wegen einer Messe in ihrer Nähe, aber er hatte direkt geplant mich auch zu beherbergen und zu bewirten.

Das Wochenende war ein starker Kontrast zu dem davor. Ich war gehemmt und angespannt, fühlte mich sehnsüchtig zu Sascha hingezogen, aber wagte es kaum ihm nahe zu sein aus Angst ich könnte Cleo einen Grund zur Eifersucht geben. Mit Cleo wurde ich nicht warm, fand keine Möglichkeit sie besser kennenzulernen oder ihr mehr von mir zu offenbaren. Gerne hätte ich ihr einfach gesagt, dass ich nicht plane ihr den Freund wegzunehmen, aber ich fühlte mich nicht dazu berechtigt es anzusprechen. Wenn ich mir die Beziehung zwischen Sascha und Cleo ansah, fragte ich mich was die beiden aneinander finden, sie wirkten total unterschiedlich und sehr uneinig. Aber ich bin mir sicher, Sascha hat seine Gründe warum er Cleo liebt und die sind berechtigt.
Jedenfalls spürte ich, dass Cleo trotz meiner Zurückhaltung nicht gut mit der Situation klarkam. Als ich nach Hause fuhr, waren wir alle in geknickter Stimmung.

Später erfuhr ich von Sascha, dass die beiden ein sehr aufreibendes Gespräch hatten, und er sich wohl auch nicht allzu geschickt dabei angestellt hatte, ihre Eifersucht und Angst zu zerstreuen. Wann wir beiden uns wiedersehen werden, steht in den Sternen.
Und nun sitze ich hier, mache mir Vorwürfe weil ich Sascha in einen Loyalitätskonflikt gebracht habe, kann doch nicht aus meiner immer noch verliebten Haut, und wünsche mir ich könnte zaubern dass Cleo auch eine polyamore Einstellung hat und nicht mehr eifersüchtig ist.
Ich möchte Sascha nicht verlieren, aber auch nicht schuld daran sein dass er Cleo verliert. Wenn wir alle bewusst polyamor wären, wäre das so viel einfacher.
Ich habe Sascha noch einmal darauf angesprochen, er ist genervt von dem Thema aber möchte mir die Möglichkeit geben, mich direkt mit Cleo zu unterhalten. Wenn ich Glück habe, werden wir doch noch Freundinnen.

Außerdem habe ich mich nochmal mit Rafael zusammengesetzt und über unsere Beziehung gesprochen. Da das, was ich mir von einer Beziehung mit ihm wünsche, für ihn eher unter Freundschaft fällt, und wir sowieso näher an der allgemein bekannten Schublade "Freundschaft" sind als an der "Beziehungs"-Schublade, haben wir beschlossen jetzt offiziell "nur noch" Freunde zu sein. Eigentlich ist es, genau wie mit Sascha auch, irgendwas dazwischen. Etwas schönes, wofür es leider kein eigenes Wort gibt. Nur ein großes Wort, was das und vieles Andere - Schubladen oder nicht - mit einschließt: Liebe.


(der Einfachheit halber habe ich viele weitere Personen für die ich ebenfalls eine Art von Liebe empfinde, in dieser Geschichte weggelassen, da sie zwar für mich wichtig sind aber den Verlauf nicht stark beeinflussst haben. Sonst wäre es zu unübersichtlich geworden.)

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