Sonntag, 30. August 2015

Lust und Missverständnisse

Seit meinem Coming-Out als Asexuelle vor vier Monaten hat sich einiges verändert.

Einerseits bei mir selbst. Ich hatte seitdem tatsächlich fast gar keinen Sex mehr - nur noch am Anfang ein, zwei Mal mit Kilian, und das war es dann für die ganze Zeit. Nachdem ich ja vor einem Jahr, als ich Kilian kennenlernte, für meine Verhältnisse plötzlich sehr viel Sex hatte, wurde es danach langsam wieder immer weniger. So wenig, dass Kilian das "wir sind zusammen"-Label irgendwann nicht mehr als passend empfand und unsere Beziehung zur Freundschaft umbenannte. Was aber nichts Grundsätzliches geändert hat, denn alle Veränderungen sind und waren sehr fließend - weshalb ich ja mit diesen willkürlichen Kategorien eh nichts anfangen kann.

Nun ja, ich schweife ab... jedenfalls habe ich wahrscheinlich mit dem Coming-Out mir selbst gegenüber auch erstmal all die gesellschaftlichen Erwartungen abgelegt, die einem als vermeintlich nicht asexueller Mensch so eingeredet werden und die ich natürlich auch in mir drin hatte. Und so wie ein Pendel, was erstmal in die Gegenrichtung ausschwingt bevor es zur Ruhe kommt, habe ich in der ersten Zeit innerlich alles von mir gewiesen was mit Sex zu tun hatte. Ich habe mich in dieser Zeit auch mit einigen Leuten getroffen, mit denen ich vorher schon sexuelle Intimität geteilt hatte, und mit denen aber auch "nur" gekuschelt.
Ich denke, das war für mich vielleicht nötig, um zu überprüfen, ob mein neues Label auch wirklich passend ist - und dazu habe ich es erstmal in einer extremeren Form ausgelegt als eigentlich passend.

Auch bei den Leuten, die mich schon kannten oder mich in letzter Zeit kennengelernt haben, habe ich damit einen Eindruck erweckt, der sozusagen ein übertriebener Gegensatz zum vorherigen Bild (eben dem der Bisexuellen, die ja so frei und oft ihre Sexualität auslebt) geworden ist.

Nun merke ich, wie das metaphorische Pendel sich zurück in die Mitte bewegt und ich mir selbst damit hoffentlich wieder ein Stück näher komme, nachdem ich erstmal etwas über das Ziel hinausgeschossen war.
Es gibt nämlich gerade einige Menschen, bei denen ich am Liebsten die Zeit zurückdrehen würde, um ihre falsche Einschätzung eher vorgestern als heute zu korrigieren, weil ich befürchte (oder weiß), dass sie mich für "unschuldiger" halten als ich tatsächlich bin.
Also merke ich leider auch direkt die negativen Folgen von diesem anfänglichen Übertreiben...

Ich hatte damit nämlich leider ein häufiges Missverständnis von Asexualität erstmal bestätigt, und muss es jetzt wieder ausräumen.
Viele Menschen, die vorher noch nichts von Asexualität gehört hatten, empfinden die Erklärung der verschiedenen Arten von Anziehung/Attraktivität als zu kompliziert - und merken sich stattdessen nur die falsch verkürzte Form "Asexuelle wollen keinen Sex".

Und das ist eben falsch. Diejenigen, die jeglichen Sex (in dem sie selbst involviert wären) als abstoßend empfinden, und auf die der lustige aber leider sonst kontraproduktive "we'd rather have cake than sex"-Spruch tatsächlich zutrifft, die nennt man in der Fachsprache "sex-repulsed". (wie das auf Deutsch übersetzt wird, weiß ich gerade leider nicht.)
Längst NICHT alle Asexuellen sind auch sex-repulsed. Ich auch nicht.

Weil es mit jedem Mal erklären vielleicht etwas besser hängenbleibt, hier nochmal meine Defintion von Asexualität:
Es gibt verschiedene Arten, wie man einen Menschen attraktiv finden kann (z.B. emotional, sinnlich, ästhetisch, sexuell. Eine längere Erklärung dazu gibt es hier). Und eine davon ist eben die sexuelle Anziehung. Das bedeutet, dass man die Attraktivität eines Menschen feststellt, indem man beim Anblick/Kennenlernen oder Denken an diese Person die deutliche Assoziation hat "mit der will ich gerne Sex haben".
Diese Art Anziehung empfinde ich nicht. Aber alle anderen Arten von Anziehung schon. Wenn ich sage, dass ich jemanden attraktiv finde, dann ist also eine oder mehrere der anderen Arten von Anziehung gemeint. Und es gibt ziemlich viele Menschen, die ich attraktiv finde, in unterschiedlichen Arten und Stärken.

Dass ich die Attraktivität eines Menschen also nicht darüber definiere, ob er spontan eine sexuelle Assoziation auslöst (was sich ansonsten offenbar als Standard-Definition etabliert hat), hat aber NICHTS mit meinem allgemeinen Verhältnis zu Sex zu tun.

Es gibt Asexuelle, die, wie oben genannt, "sex-repulsed" sind. Es gibt aber auch welche, die genauso oft und viel Sex mit anderen Menschen haben wollen wie der durschnittliche nicht-asexuelle Mensch oder gar mehr.
Und es gibt Vieles, was irgendwo dazwischen liegt.
Manche Asexuelle haben z.B. eine starke Libido - also ein allgemeines, nicht an Personen gebundenes Bedürfnis nach sexueller Befriedigung, sozusagen der "Sexualtrieb" - aber leben diese lieber nur durch Selbstbefriedigung aus.

Bei mir ist es so, dass diese allgemeine Libido sehr gering ist (manchmal denke ich, ich hätte sie gar nicht). Sie ändert sich je nachdem, wie es mir gerade geht, zum Beispiel ob ich viel Stress im Alltag habe, oder wie mein Hormonpegel sich verhält. Ich leide also nicht darunter, wenn ich keinen Sex bekomme, wie ich es sonst öfter von anderen Menschen höre (die dann nach einer Weile unausgeglichen und unglücklich werden).
Das ist bei mir dafür eher der Fall, wenn es allgemein um sinnliche Intimität geht. Ich bin sehr, sehr kuschelig und wenn ich nicht oft oder lange genug einen anderen Menschen (den ich sinnlich attraktiv finde) in meiner Nähe haben und Haut an Haut fühlen kann, dann geht es mir schlecht.

Wenn man allerdings nicht von einem abstrakten Bedürfnis ausgeht, sondern von konkreten Situationen und Menschen, dann spielt die sexuelle Libido kaum noch eine Rolle bei der Frage, ob ich Sex haben will oder nicht. Es gibt für mich viele Gründe, die dazu führen können, dass ich in einer bestimmten Situation Lust auf Sex bekomme.

Und damit meine ich nicht nur (aber auch), dass mich sinnlich intime Situationen manchmal auch körperlich sehr stark erregen können... was ich in den letzten Tagen mal wieder deutlich gespürt habe. Es ist unheimlich schön, mich zwischen den Händen und Küssen eines geliebten Menschen zu fühlen, als würde mein ganzer Körper immer offener und weicher werden - ich kann das Bild vom "dahinschmelzen" nur allzu gut verstehen.

Zum Beispiel gibt es durchaus auch Menschen, die ich so attraktiv finde, dass ich bei ihnen allgemein die Assoziation im Kopf habe "mit dem möchte ich gerne mal ins Bett gehen" - und zwar auch gerne nackt und ohne dass ich bestimmte Berührungen als unangenehm empfinden würde weil sie zu sexuell wären. Das ist zwar von mir aus noch keine aktive Lust auf Sex, die ich dann gezielt verfolge, aber eine Art passive Lust: also die Bereitschaft, in der passenden Situation gerne und begeistert ja zu sagen, wenn dieser Mensch mit mir sexuell intim werden möchte. Ich sehe das als eine besonders starke Form der sinnlichen Anziehung, denn sexuelle Intimität ist ja fast immer auch sinnlich sehr intim.
Wenn es sich dann noch um einen Menschen handelt, der selber nicht asexuell ist, dann kommt noch eine zusätzliche Motivation hinzu: da ich denke, dass sexuelle Intimität für die meisten Menschen die "höchste" Form von Intimität darstellt, möchte ich gerne dieses Gefühl mit demjenigen erleben - einerseits kann ich sie dabei "glücklich machen" und durch Empathie miterleben, wie schön es für sie ist, und außerdem kann ich es als sehr großes Kompliment empfinden (was für mein Selbstwertgefühl sehr wohltuend und manchmal irgendwie nötig ist) dass ein Mensch, den ich auf meine eigene höchste Art attraktiv finde, dies auf seine höchste Art erwidert.

Dazu kommt außerdem noch, gerade bei Menschen die ich noch nicht lange so intim kenne, ein weiterer Grund, der gar nicht mal so unwichtig ist: Neugier. Einfach wissen wollen, wie sich das wohl anfühlt mit diesem Menschen. Das erklärt, warum ich tendenziell öfter Sex haben mag, je kürzer ich diese Person so intim kenne... und es dann mit der Zeit wieder weniger wird, weil der "neu und spannend"-Faktor halt abnimmt.
Was natürlich bei einer sexuell geschlossenen romantischen Zweierbeziehung mit einem nicht asexuellen Menschen sehr ungünstig ist, wie ich ja schon zweimal erlebt habe. Mit einem offenen Konzept wie Beziehungsanarchie, wo niemand mir zu sexueller Exklusivität verpflichtet ist, ist das deutlich angenehmer. Weil ich eben für niemandes Trieb-Befriedigung alleine (oder überhaupt) "zuständig" bin, kann ich auch mit viel weniger Druck und Befürchtungen auf Menschen zugehen, mit denen ich gerne sinnliche (und vielleicht sexuelle) Intimität teilen möchte.

Nur wenn diese mich dann aufgrund des Labels "asexuell" als völlig keusch und teilweise sogar als unsinnlich einschätzen, wird es natürlich wieder deutlich schwerer. Ein Grund mehr, warum ich mir wünsche, dass die genaue Bedeutung von Asexualität bald zum Allgemeinwissen wird, und ich es nicht mehr ständig erklären oder Missverständnisse korrigieren muss.

Ich bin zwar weiterhin nicht (oder höchstens seeehr selten) diejenige, die gezielt und aktiv versuchen wird, mit jemandem Sex zu haben. Aber unter gewissen Umständen bin ich manchmal sehr gerne bereit mitzumachen, wenn jemand anfängt, mich zu "verführen". Außerdem ist die Grenze zwischen sexueller und sinnlicher Intimität manchmal sowieso sehr fließend.
Und das gilt für so einige andere Asexuelle sicherlich auch, und die werden sich genauso wie ich darüber freuen, wenn man sie nicht aufgrund ihrer Orientierung direkt unter "die finden Sex ganz schrecklich und wollen auf keinen Fall was damit zu tun haben" einsortiert, sondern sich (vor allem falls man denn sexuell an ihnen interessiert ist) die Mühe macht, nachzufragen.

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3 Kommentare:

  1. Liebe Amelie,
    danke für diese ausführliche Klarstellung. Auch ich habe asexuell mit sex-repulsed gleichgesetzt. Und neben den unterschiedlichsten Abstufungen von Asexualität gibt es ja auch noch die unterschiedlichsten Abstufungen von sexuellen Vorlieben. Will heißen, auch nicht-asexuelle haben es alles andere als leicht.
    Ich wünsche dir weiterhin alles Gute und viel Inspiration für neue tolle Einträge!
    Petra ❤️

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    1. Danke :) es freut mich, dass ich schon bei mindestens einem Menschen dieses Missverständnis ausräumen konnte.

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  2. Warum bezeichnest Du dich dennimmer noch als asexuell?
    Du hast Doch ganz eindeutig Wünsche und Fantasien, lebst sie nur nicht

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