Samstag, 7. Dezember 2013

Fährst du auf der Beziehungsrolltreppe?

Ich habe freundlicherweise die Erlaubnis bekommen, diesen Blog-Beitrag ins Deutsche zu übersetzen. Das Original hat Aggie Sez in ihrem Blog Solo Poly veröffentlicht, und ich habe es schon oft irgendwo verlinkt um meine Erklärungen zu verdeutlichen. Nun muss ich endlich nicht mehr auf die englische Version zurückgreifen, und dieser Text kann auch denjenigen zugänglich gemacht werden, die des Englischen nicht mächtig sind. Einige Wendungen waren sehr schwierig zu übersetzen. Wer sich also nicht sicher ist, dem empfehle ich, zum besseren Verständnis auch das englische Original zu lesen.



hetero couple riding escalator
(Bild: solopoly.net)

Die Beziehungsrolltreppe fahren (oder nicht)

(von Aggie Sez)

"Wird da was Ernstes draus?" Wenn du dieses Klischee schon gehört (oder vielleicht selbst gedacht oder ausgesprochen) hast: willkommen auf der Beziehungsrolltreppe.

Beziehungsrolltreppe: Der Standardsatz an gesellschaftlichen Erwartungen für das angemessene Verhalten einer intimen Beziehung. Aufeinanderfolgende Stufen mit klar erkennbaren Merkmalen und dem angenommenen Ziel einer dauerhaft monogamen (sexuell und romantisch exklusiven), zusammenwohnenden Ehe - behördlich genehmigt, wenn möglich. Der soziale Standard an dem die meisten Leute messen, ob eine sich entwickelnde Beziehung bedeutsam, "ernsthaft", gut, gesund, verbindlich und wert ist, sie weiter zu verfolgen.

Die Stufen der Beziehungsrolltreppe unterscheiden sich je nach Kultur und Subkultur, und sie verändern sich mit der Zeit ein Bisschen. In der westlichen Kultur definiert die Rolltreppe aktuell, dass "ernsthafte" Beziehungen normalerweise diese Stufen, in dieser Reihenfolge, durchlaufen:

  1. Kontakt aufbauen: Flirten, lockere/gelegentliche Dates, und Sex (möglicherweise).
  2. Initiation: Romantisches Werben, Investieren von Emotionen ("sich verlieben"), und fast immer Sex (außer bei sehr konservativen Leuten).
  3. Beanspruchen und Definieren: Gegenseitige Liebeserklärungen, in der Öffentlichkeit als Paar auftreten, übliche Beziehungsbegriffe annehmen und verwenden ("mein Freund" etc.), und monogame intime Exklusivität (sexuell und emotional) erwarten oder vereinbaren. Übergang zu flüssigkeits-verbundenem Sex (außer zu Verhütungszwecken). Ab diesem Punkt beginnt die Bezeichung "Primärpartner" zu gelten.
  4. Etablierung: Den Lebensrhythmus aneinander anpassen. Muster aufstellen wie man Zeit zusammen verbringt (regelmäßige Dates und sexuelle Begegnungen, Zeit im Zuhause des anderen verbringen, etc.) und kommuniziert (täglich miteinander sprechen/telefonieren/SMS schreiben etc.). Erwartungen von gegenseitiger Rechenschaftspflicht über Aufenthaltsorte und Verhalten. Andeutungen, Diskussionen und Pläne für eine langzeitige gemeinsame Zukunft als monogames Paar. Die Herkunftsfamilie des Partners kennenlernen.
  5. Verbindlichkeit: Zusammenziehen, Besitz und Finanzen teilen, Verlobung
  6. Fertigstellung: Hochzeit (behördlich, sofern möglich) und Kinder kriegen (nicht zwingend aber von der Gesellschaft sehr stark erwartet). Die Beziehung ist nun "am Ziel" und es wird erwartet dass ihre Struktur statisch bleibt bis einer der Partner stirbt.
  7. Vermächtnis: Ein Haus kaufen, Kinder haben. Wie Lily Lloyd in ihren Kommentaren anmerkte, fühlen sich manche Paare noch nicht vollkommen "gültig" (oder werden so wahrgenommen), bis sie nach der Hochzeit diese zusätzlichen Fixpunkte erreicht haben - aber sie werden oft als nicht so wesentlich für die Rolltreppen-Erfahrung angesehen wie es noch von einigen Jahrzehnten der Fall gewesen wäre.
Es kann einige Abweichung von diesen Stufen geben, aber üblicherweise nicht viel.


Um fair zu sein: trotz ihrer einschränkenden Art funktioniert die Beziehungsrolltreppe oft gut genug. Viele Leute sind wirklich glücklich und erfüllt, wenn sie in einer dauerhaften monogamen Ehe (oder vergleichbarem) zusammenleben.

Außerdem bietet die starke gesetzliche und soziale Unterstützung und Anerkennung, die Paaren zuteil wird wenn sie es bis zum Ende der Rolltreppe schaffen und dort bleiben, eine Menge an Sicherheit und Stabilität, die man mit anderen Herangehensweisen an intime Beziehungen, Familien und Haushalte nur schwer erreichen kann. (Dieser Vorteil ist unterschiedlich stark je nach Volkszugehörigkeit, Klasse und sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität.)

Natürlich funktioniert die Rolltreppe für viele Leute nicht - entweder grundsätzlich, oder für manche Paarungen, oder für manche Lebensabschnitte. Es wird üblicherweise angenommen dass das ein Fehler dieser Personen, oder einfach nur Pech ist - aber kein Hinweis auf ein Problem mit der Rolltreppe an sich. Außerdem sind manche Leute glücklich damit, Rolltreppen- und Nichtrolltreppenbeziehungen oder -beziehungseigenschaften zu vermischen.
Wie können Beziehungen außerhalb der Rolltreppe aussehen? Ein paar Beispiele:

  • Solo-Menschen, die wert auf langanhaltende Beziehungen legen aber nicht heiraten oder zusammenziehen wollen.
  • Polyamore Menschen, die offen dafür sind, mehr als eine intime Beziehung gleichzeitig zu haben, mit Wissen und Zustimmung aller Beteiligten.
  • Menschen deren Hauptfokus im Leben ihre Arbeit, Studium, Kunst, Kinder, o.ä. sind - die nicht so viel Zeit oder Aufmerksamkeit in eine Beziehung investieren wollen oder können wie die Rolltreppe typischerweise verlangt.
  • Swinger, die einvernehmlich in ihrer Freizeit Sex außerhalb ihrer primären Partnerschaft haben.
  • Menschen, die sich emotionale Intimität und Lebensgemeinschaft wünschen, die keinen oder nur wenig Sex und/oder Romantik enthält (asexuell, "Ace", "gray-A" oder queer platonic)
  • Don’t-ask-don’t-tell-Partnerschaften.
  • BDSM/kink-Beziehungen mit intimer Machtdynamik, die sexuell sein können oder nicht, und eventuell weitere Personen außer dem Rolltreppenpartner mit einbeziehen.
  • Fernbeziehungen oder Beziehungen in denen ein Partner im Militäreinsatz, in Haft, oder aus anderen Gründen für lange Zeit nicht körperlich verfügbar ist - diese Partner haben oft die implizite oder explizite Erlaubnis für zusätzliche Beziehungen.
Die Beziehungsrolltreppe ist eine strenge Einbahnstraße. Partner dürfen nicht zurück (oder zur Seite) auf eine Stufe treten, die weniger oder eine andere Struktur hat. Die einzig gültigen Optionen sind, sich weiter vorwärts zu bewegen oder sich zu trennen und mit einem neuen Partner nochmal anzufangen. Beziehungen die zu lange in einer Übergangsphase bleiben ohne weiteren "Fortschritt", oder die sich hin-und-herbewegen, werden als "Sackgasse" betrachtet.

In echten Leben endet natürlich die große Mehrheit aller Beziehungen (jeder Konstellation) in irgendeiner Art von Trennung. Üblicherweise wird eine Beziehung, die die Etablierungsphase erreicht hat und danach irgendwann endet (Scheidung, dauerhafte Trennung, in getrennte Haushalte ziehen, oder "Schluss machen" bei unverheirateten) als "vorbei" und demnach "gescheitert" angesehen - trotz allem Guten, was während ihres Bestehens erreicht wurde, und jeglicher Intimität, Zuneigung, Unterstützung oder Freundschaft die danach eventuell noch weiter besteht.

Da die Ehe (oder ihre Äquivalente) den Gipfel der Rolltreppe darstellt, gibt es genau genommen keinen guten Weg abwärts. Demzufolge leidet unsere Gesellschaft an einem Mangel an Modellen, um Beziehungen gut abzuschließen oder in etwas anders übergehen zu lassen. Trennungen sind fast immer schrecklich und qualvoll für die beteiligten Partner sowie deren Familien, Freunde und Gemeinschaften.

Deswegen ist es tragisch und verheerend, dass das häufigste Ergebnis für frühere Partner ist, sich als Feinde zu betrachten oder aus dem Leben des anderen so weit wie möglich zu verschwinden. Wenn wir bessere Modelle hätten, um Beziehungen zu beenden oder verändern, würden wir bessere Fähigkeiten und soziale Unterstützung entwickeln - und würden dadurch viel weniger Schaden anrichten.

Die Beziehungsrolltreppe hat beträchtliche Macht. Die meisten von uns nehmen sie automatisch als Wegweiser an, um unsere persönlichen Lebens- und Beziehugnsziele zu definieren, Partner auszuwählen, unsere Beziehugen zu bewerten, und die Beziehungen Anderer zu beurteilen.

Das "automatisch" ist der wesentliche Teil: Die meisten Leute denken nicht klar über die Beziehungsrolltreppe nach oder stellen sie in Frage. Stattdessen glauben die meisten von uns unbewusst dem gesellschaftlichen Grundsatz, dass die Rolltreppe keine Sache der Entscheidung oder Vorliebe ist, sondern eine natürliche und sogar übernatürliche Macht an sich; eine Mischung von Physik und Magie. Es ist einfach die Art, wie "gute" Beziehungen "natürlicherweise passieren" (so wie Wasser bergab fließt) und wie sie "sein sollen" (als ob es eine Vorbestimmung gibt).

Selbst wenn du nicht in einer primären Beziehung bist, so lange du aktiv danach suchst oder sie dir stark wünschst, fährst du immer noch auf der Rolltreppe. Du brauchst keinen Partner um mitzufahren; du musst nur den Zielen und dem Verlauf der Rolltreppe anhängen.

Was, wenn du nicht mitfahren willst, oder wenn deine Beziehungen sich nicht konform mit diesem Muster entwickeln?
Das ist ein Problem. Reflexartig trivialisiert, ignoriert, oder diffamiert unsere Gesellschaft andere Entscheidungen oder Vorlieben, intime Beziehungen zu führen. Die Spitze der Rolltreppe zu erreichen, ist die soziale Bestätigung dafür, ein erwachsener, liebenswürdiger, respektabler Mensch zu sein. Es nicht schaffen dort hin zu kommen, freiwillig abzusteigen - oder schlimmer, gar nicht erst mitfahren zu wollen - kennzeichnet dich als unreif, fehlerhaft, geschädigt, egoistisch, nicht vertrauenswürdig und möglicherweise sogar gefährlich.

Die Beziehungsrolltreppe mag nur eine Richtung haben, aber sie beruht auf kreisförmiger Logik. Ihr Grundprinzip ist der Mythos, dass es "den Einen" (und nur einen) "richtigen" Partner für dich gibt - der mit dir die Rolltreppe fahren und für immer bei dir bleiben wird. OK, also wie kannst du feststellen ob der Lebenspartner den du dir ausgesucht hast, "der Eine" für dich ist? Das ist fast komplett vom Ergebnis abhängig: Wenn ihr die Spitze der Rolltreppe erreicht und dort bleibt, dann muss die Person an deiner Seite per Definition "der Eine" für dich sein.
... außer natürlich, die Wege von dir und deinem Partner trennen sich irgendwann auf eine wichtige oder dauerhafte Art und Weise. In diesem Fall kann derjenige offensichtlich nicht wirklich "der Eine" für dich gewesen sein, egal was du einmal dachtest oder was andere glaubten.

Was, wenn es letztendlich so kommt, dass einer oder beide von euch durch eure Ehe todunglücklich, einsam, unerfüllt, oder gar gefährdet oder seiner Rechte beraubt ist? Es gibt immer noch eine Tonne Trägheit und Druck, der euch beide dazu drängt, zumindest zum Schein exklusiv und persönlich gebunden zu bleiben. Das zu tun, zeigt eure Loyalität für die vorgegebene soziale Ordnung, die andere Leute beschwichtigt, indem sie sie nicht dazu bringt, ihre eigenen Beziehungsentscheidungen in Frage zu stellen. Außerdem erlaubt es dir und deinem Partner, das soziale "Pärchenprivileg" zu behalten und (üblicherweise) erheblichen persönlichen Aufruhr und materielle Verluste zu vermeiden.

Die Rolltreppe ist nur breit genug für zwei Leute gleichzeitig. Beziehungen, die keine sexuelle Exklusivität erfordern, oder die zusätzliche Intimpartner offen willkommen heißen (Polyamorie und offene Beziehungen), werden typischerweise das Ziel von Verachtung, Spott, Verdächtigungen, Wut und Angst. Tatsächlich ist diese Möglichkeit so bedrohlich, dass, auch wenn die meisten Leute in der westlichen Kultur inzwischen akzeptieren, dass auch gleichgeschlechtliche Paare auf der Rolltreppe fahren können, offen nichtmonogamen Beziehungen gezielt der Zutritt verwehrt wird.

Fremdgehen ist tatsächlich ein Teil der Rolltreppe. Angebliche Monogamie ist sehr viel üblicher als tatsächliche Monogamie. Heimlich mit anderen Partnern sexuelle Verbindungen zu haben ist ein seit langem anerkannter (und in machen Kulturen teilweise akzeptierter) Aspekt des Lebens auf der Rolltreppe.
Fremdgehen verstärkt, und ehrt auf diese Weise, die Hierarchie der Rolltreppe. Geheime zusätzliche Partner werden als schändlich betrachtet. Ihnen wird jede Anerkennung der Beziehung und jedes Recht verweigert, und es wird erwartet dass sie sich daran beteiligen, ihre eigene Beziehung zu vertuschen. Außerdem können Primärpartner so tun, als würden ihre anderen Partner nicht existieren - oder sich das Recht herausnehmen, in eine "gerechte" eifersüchtige Wut zu geraten, wenn sie mit dieser Realität konfrontiert werden.
Gelegentliche prominente Skandale und Empörung über untreue öffentliche Personen dienen hauptsächlich dazu, die Macht der Rolltreppe zu verstärken - aber das hat so gut wie keine Auswirkung auf die Praxis des Fremdgehens.
Fremdgehen ist außerdem eine rolltreppenfreundliche Möglichkeit, eine Beziehung zu beenden, weil es oft schon eine neue Beziehung bereithält, in die man flüchten kann. Anstatt wirklich abzuspringen, ersetzt man einfach seinen Partner mitten auf der Rolltreppe. Das reduziert das Risiko, dass man das Stigma, ein alleinstehender Erwachsener zu sein, ertragen muss. (Natürlich sieht der Partner, den man verlässt, wahrscheinlich diesem Stigma entgegen - aber das ist sein Problem.)

Fremdgehen ist eine Notlösung, die versucht, die Mythologie der Rolltreppe mit der menschlichen Natur unter einen Hut zu bringen. Es funktioniert oft (zumindest eine Zeit lang), aber es bringt alle dazu, sich schlecht zu benehmen, sich vor Verantwortung zu drücken, und einander schäbig zu behandeln. Da dies das einzige Modell von Nichtmonogamie ist, was die meisten Leute kennen, übernehmen ehrliche nichtmonogame Beziehungen unglücklicherweise zu oft viele dieser Scham- und Hierarchie-basierten Konventionen von unerlaubten Affären.


Es ist wichtig, anzuerkennen, dass die Beziehungsrolltreppe eine Sache der persönlichen Entscheidung eben so wie der sozialen Konventionen ist. Es ist selten (zumindest in der modernen westlichen Kultur), dass Menschen gezwungen werden, auf die Rolltreppe zu steigen und dort zu bleiben. Auf jeder Stufe der Rolltreppe treffen die Beteiligten bewusste und unterbewusste Entscheidungen. Wenn du auf der Rolltreppe fährst, mag es sich so anfühlen, als ob du einfach mitgetragen wirst, aber in Wirklichkeit nimmt jeder die Treppe.
Jeder von uns ist verantwortlich für die Arten von Beziehungen, die wir haben. Soziale Konventionen und Druck beeinflussen, welche Beziehungsmodelle einfacher sind oder mehr soziale Privilegien und Bestätigung gewähren.
Während einige Leute auch weiterhin gar nichts von Nicht-Rolltreppen-Beziehungsmodellen wissen, hilft das Internet sicherlich dabei, dies zu verändern.

Aber unabhängig davon, welchen Typ von Beziehung du für dich selber wählst - wenn du dich entscheidest, alternative Beziehungsformen abseits der Rolltreppe zu ignorieren, verspotten oder verachten, wirken die Folgen dieser Entscheidung über dein eigenes Leben hinaus. Wieviel Wahrnehmung und Respekt du anderen Beziehungsentscheidungen gewährst, betrifft letztendlich jeden, der eine Beziehung, die irgendwie nicht auf der Rolltreppe liegt, in Betracht ziehen oder vielleicht wirklich brauchen könnte.

Ein großer Teil davon, die Tyrannei des Rolltreppe einzudämmen, ist einfach nur anzuerkennen, dass sie existiert, dass sie eine Sache der Entscheidung ist, und dass es auch andere gültige Entscheidungen gibt. Letztendlich sollte der Gehalt, und nicht die Struktur, das sein was den Erfolg einer intimen Beziehung bestimmt.

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2 Kommentare:

  1. Das ist gruselig aber wohl existent, dieses Bild der Rolltreppe.

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  2. Interessanter Lösungsansatz, der Gesellschaft u. Liebe zu erklären versucht .
    F

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